Osternachtpredigt 2024

Im Leben gibt es viel zu lösen: ein Kreuzworträtsel, einen Doppelknoten, oder aber ein Missverständnis, ein Familienkonflikt, ein Beziehungsproblem. Wir wollen diese lösen, ohne Verletzungen, ohne dass wir daran zerbrechen.

Vor etlichen Jahren habe ich einen Kinofilm gesehen: „Unbreakable“ heißt er, „unzerbrechlich“ auf Deutsch. Der Film handelt von einem Mann, der als einziger ein großes Zugunglück überlebt. Er bleibt völlig unverletzt, ohne einen einzigen Kratzer auf seinem Körper. Alle anderen 131 Bahnreisenden sterben. Nach diesem Unglück wird ihm bewusst, dass er noch nie krank war oder sich etwas gebrochen hat, dass er einfach unzerbrechlich ist. Sinnfälliger Weise arbeitet dieser Held, sein Name ist David Dunn, gespielt von Bruce Willis, bei einem Sicherheitsdienst. Und hier entdeckt er seine Fähigkeit, gefährliche Situationen im Voraus zu erspüren und dementsprechend zu handeln. Der Gegenspieler von David Dunn sagt zu ihm, die Menschen suchen einen, der die größten Probleme löst und dabei nicht zerbricht. David Dunn ist offensichtlich so eine Gestalt.

Diese Heldenfiguren hat es immer gegeben. Halbgötter wie Herkules, Ritter wie König Artus oder Superman. Gestalten, die die größten Abenteuer heldenhaft lösen. Wir Christen haben den völligen Gegenentwurf: einen, der zerbricht, der unbewaffnet in die Stadt kommt. Nur einen Esel hat er bei sich. Einer, der zu den notleidenden, kranken, siechenden Menschen geht, ihnen Trost zuspricht, ihr Leid teilt, sie wieder in die Mitte holt, ihnen ein Gesicht gibt, die Hand auflegt, den Worten Taten folgen lässt. Die Menschen aus dem Dunkel ihrer Trostlosigkeit ins Licht der Hoffnung holt und so die Knoten ihres Lebens auflöst. Einer, der so mitleidet, dass es ihm das Herz bricht. Der die Knochen hinhält, bis sie brechen. Der seinen Geist hingibt, bis alles in ihm gebrochen ist – auch das Leben. Einer, der bestätigt wird, erst nach drei langen Tagen, aber für immer. Der herausgenommen ist aus dem Grab in das Licht des Lebens gehoben. Einer, dessen Ruf „mein Gott, warum hast du mich verlassen? sich zum jubelnden Halleluja wandelt.

Das Leben gibt nicht nur viele Rätsel auf, die zu lösen sind, es bringt auch Leid und Schmerz. Wir sehnen uns nach Er-lösung, nur nennen wir das heute nicht mehr so. Wir sehnen uns nach Auswegen aus dem Gewirr von Kriegen und Konflikten, Unsicherheiten und Ängsten. Wir wollen aussteigen, ja ausbrechen aus allen Sorgen und Bedrohungen. Niemand braucht Theologie zu studieren, um zu spüren, welche einmalige und einzigartige Antwort das Osterfest auf unsere Sehnsucht darstellt. Wir brauchen nur ehrlich in uns zu schauen und diese erkennen. Darum geht es. Darauf antwortet Gott: Er erweckt Jesus. Er holt ihn von den Toten und aus allem Totem heraus. Wir feiern einen nie dagewesenen Neubeginn: Neues Leben blüht auf, schafft Raum, wo Enge ist. Lässt Töne erklingen, wo alles stumm war. Schenkt Weite im Herzen, wo die Angst sich breitgemacht hat. Entwirft eine hoffnungsvolle Zukunft, wo bisher der Tod herrschte.

In dieser Nacht/heute Morgen haben wir in den biblischen Lesungen der Osternacht wieder gehört, wie sehr sich Gott nach einem befreienden Leben der Menschen sehnt. Wie er mit ihnen zittert und hofft: Angefangen von der ersten Lesung aus der Genesis, der Erschaffung der Welt; über den Auszug der Israeliten aus Ägypten – die große Befreiungsgeschichte gegen jede Art der Versklavung. Bis zur schwierigen Lesung aus dem Römerbrief, die in dichter Sprache versucht, das Heilsgeschehen mit Jesu Auferstehung zu vermitteln.

Wir vertrauen diesem Jesus Christus und darum brauchen wir keinem Superhelden zu folgen, der uns eine Fantasiewelt auf die Kinoleinwand zaubert, noch den selbsternannten Helden unserer Tage, Machthaber, die Menschen, ja ganze Völker ins Unrecht und in den Tod führen. Wir bekennen uns zu Einem, der den Weg ins Leben aufzeigt; der selbst das Leben ist, dass dem Tod die Macht nimmt. „Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaft auferstanden“. Dieser Freudenruf der orthodoxen Christen ist der größte Befreiungsruf der Menschheitsgeschichte, befreit doch dieser Glaube vom Zwang der Selbsterlösung.

Dieser Glaube prägt mein Leben nicht erst nach dem Tod. Er prägt unser Leben im Hier und Jetzt. Es sind diese Geschichten aus dem Alltag, die heute genauso geschehen wie zur Zeit Jesu, Auferstehungsgeschichten: Da ist die lebensfrohe Frau, die von jetzt auf gleich mit der Krebsdiagnose konfrontiert wird. Es sieht schlecht aus. Die Chemo-Therapie bringt nicht den gewünschten Erfolg – zunächst. Aber das, was in den schweren Monaten der Krankheit nicht schwindet, ist die Hoffnung, dass am Ende alles gut wird. Und dann – wie durch ein Wunder – gibt es doch die Chance auf Heilung und die Frau wird gesund, kehrt zurück ins Leben, so wie die Schwiegermutter des Petrus oder die vielen anderen Kranken, die Jesus heilte. Ein anderer „steht auf“, um einem geliebten Menschen freudig entgegenzueilen, obwohl dieser ihn zutiefst verletzt hatte, so wie der Vater des „verlorenen Sohns“ aus dem Gleichnis. Immer wieder stehen Menschen auf und treffen die mutige Entscheidung, ihr Leben von Grund auf zu verändern, so wie die Jüngerinnen und Jünger, als Jesus sie in seine Nachfolge ruft. Das sind Beispiele für Momente aus dem alltäglichen Leben, in denen sich Spuren der Auferstehung entdecken lassen.

Menschen leben auf. Sie fühlen sich auf einmal wahrhaft lebendig, sie schöpfen wie aus dem Nichts neue Kraft. Es geschieht, dass Bedrückte und Gebeugte wieder aufrecht durchs Leben gehen, oder dass Verunsicherte die Gewissheit erleben, dass sie genau so geliebt werden, wie sie sind, mit all ihren Stärken und Erfolgen, aber auch mit allen Schwächen und allem Scheitern. Ostern hat etwas verändert. Christin sein/Christ sein, das heißt, darauf zu vertrauen, dass es nichts gibt, was uns den Weg zu Gottes Liebe versperren kann, nicht einmal der Tod kann das. Diese Hoffnung gilt nicht nur für die Verstorbenen, sondern auch für uns Lebende.

„Unbreakable“ – nein, wir sind nicht unzerbrechlich. Gott sei Dank. Wir werden immer wieder verletzbar sein und manche Narbe wird unser Leben prägen, an Körper und Geist. Aber wann immer wir Kraft finden, um neu anzufangen, wann immer wir Versöhnung schenken oder erleben, wann immer wir aufgerichtet werden, erfahren wir es: Gottes Liebe wirkt mitten in unser Leben hinein.

Halleluja

Matthias Ziemens, Propst