Draußen sehen, was drinnen ist
Grafittis zieren jetzt die Fassade der Katholischen Familienbildungsstätte und der Propstei St. Clemens
Oma, Opa, Mutter, Vater, Tochter, Sohn – die Katholische Familienbildungsstätte Hannover hat die ganze Familie im Blick. Das ist jetzt auch als Graffiti an der Fassade zu sehen. Die Weltkirche gibt es gleich nebenan.
Graffitis sind im Stadtbild von Hannover allgegenwärtig. Mal gewünscht, mal weniger. Mal spannend, überraschend und ein echter Hingucker und mal sind die Eindrücke deutlich andere. "Fassadengestaltung ist immer Kunst im öffentlichen Raum", sagt Jascha Müller. Der 40-Jährige ist Graffitikünstler und Designer, Künstlername: Jash One. Eine Fassade zu gestalten ist immer mehr als Farbe auf Steine zu bringen: Jedes Projekt folgt seiner eigenen Dynamik. Vor allem gehe es darum, sich mit dem Ort und den Menschen auseinanderzusetzen, eine einzigartige, passende Idee zu entwickeln.
So war es auch, als Anne Korte-Polier, die Leiterin der Katholischen Familienbildungsstätte (FABI), Kontakt zu Müller aufnahm. Kein ungewöhnlicher Weg: "Mundpropaganda funktioniert immer noch an besten", weiß der Künstler. Die Absicht von Anne Korte-Polier: Im Vorbeifahren, im Blick aus der unmittelbar vor dem Haus verkehrenden Straßenbahn, sollte der Name Familienbildungsstätte ein Bild bekommen. Gewissermaßen: Draußen sehen, was drinnen ist.
"Viel über die Fabi erfahren"
Von dieser Idee ausgehend haben Korte-Polier und Müller weiter überlegt. Was passt zum Ort, was passt zu den Menschen, welche Darstellung drückt das aus? "So habe ich viel über die FABI erfahren", berichtet Müller. Die über 50-jährige Geschichte der Einrichtung in Trägerschaft des Bistums Hildesheim, über die vielfältigen Angebote, die sich an die ganze Familie richten. Eben an Oma, Opa, Mutter, Vater, Tochter, Sohn. Darüber Familien zu bilden, zu stärken, sie zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermutigen.
Aus diesen Gesprächen konkretisierte sich das Projekt: Familie in ihrer Gänze abzubilden, vom Motiv her schon eher klassisch, ein bisschen verspielt, aber nicht zu modern. So ist dann dieses Bild entstanden, das sich an der ganzen Fassade entlangzieht: eine Mutter mit Kinderwagen, ein lesendes altes Paar, eine Familie mit drei Kindern, ein kleines krabbelndes Kind. Verbunden mit Blumen und Gras, dazu ein Marienkäfer. So kommt auch grün in de Stadt, eine Art Insel der Bildung zwischen Stein, Beton und Asphalt.
Jascha Müller kann sich in diesem Motiv gut wiederfinden: Er ist selbst verheiratet und Vater zweier Kinder. Ein bisschen erinnert sein Werk an der Fassade der FABI an eine Illustration aus einem Kinderbuch und das ist etwas, was Generationen verbindet: Vorlesen, gemeinsam Bilder zwischen Pappdeckeln erkunden. Es geht ihm um ein für den Raum und den Auftraggeber passendes Kunstwerk, nicht zwingend darum, sich selbst zu verwirklichen. "Eine frische Note", wie er es nennt das ist es, was er einbringen möchte.
Seit 20 Jahren ist Müller in der Graffitiszene aktiv. Immer noch ist er von sauberen Sprühbildern, von Wahl der Farben und Formen, vom gestalten einzelner Buchstaben fasziniert. Bilder und wie sie wirken das hat er als Grafik Designer studiert und es auch durch Lehraufträge an der Fachhochschule Hannover anderen angehenden Künstler*innen vermittelt. Später kam noch die Bewegung zum Bild dazu: 2016 hat er mit einem Künstlerkollegen eine Filmproduktionsfirma gegründet und setzt zwei- oder dreidimensionale Aminationen um.
Gute Kunst braucht Zeit
Gute Kunst braucht für Müller neben der Idee und Inspiration noch etwas Weiteres: Zeit. 15 Tage mit jeweils acht Stunden Arbeit stecken in dem Projekt. Allerdings nicht allein für die FABI, sondern auch für die benachbarte Propstei St. Clemens. Dort musste eine alte, zur Straße gelegene Wand abgerissen werden. Übrigens: Diese Wand zierte ein Graffiti, das eher ungeplant und offenkundig schnell gesprüht wurde. So lag es nahe, auch diese jetzt schwarze Wand mit einem elektrischen Tor künstlerisch zu gestalten.
Wieder wurde über einen Entwurf gesponnen. Diesmal: Was ist das Besondere, Unverwechselbare an der Katholischen Kirche in Hannover? "Die Geschichte der Katholikinnen und Katholiken in der Stadt hat mich fasziniert", sagt Müller: "Vor allem, dass sie vor 300 Jahren durch Italienern, Spanier und Franzosen wieder nach Hannover kamen." Bis in die heutige Zeit ist sie davon geprägt, dass sich Katholik*innen aus aller Herren Länder hier niederlassen und ein neues Zuhause finden: "Diese Internationalität wollte ich gerne ausdrücken."
So ziert die Halbfigur einer afrikanischen Frau die eine, die einer Frau aus Lateinamerika die andere Seite. Starke Frauen. In klassischen Gewändern, aber in moderner Optik. Die Bildnisse sind in Grüntönen gehalten: "Hier war es mir wichtig, künstlerisch einen anderen Akzent zu setzen." Manchmal spielt aber zudem Funktionalität in die Kunst. So ziert nun ein Schriftzug das elektrische Tor. Schnöde im Text,freundlich im Ton, ansprechend in der Gestaltung: "Einfahrt freihalten". Auch das kann Kunst im öffentlichen Raum sein.
Wer mehr über den Künstler erfahren möchte: www.jascha-mueller.de
Rüdiger Wala